Der Linguist Julien Longhi hat die Tweets der französischen Präsidentschaftskandidaten nach Schlagwörtern durchsucht. Das Ergebnis: Es wird Wahlkampf mit der Angst vor Islamismus und mit dem Kampf gegen Terror gemacht – aber auf sehr unterschiedliche Weise.

„Kein Ergebnis entspricht Ihrer Suche.“ Das zeigt die Website Idéo2017.ensea.fr in großen, roten Lettern an. Die Seite bietet eine Analyse der Tweets von französischen Politikern an, das Schlagwort „Islam“ zusammen mit „Marine Le Pen“ ergibt genau: null Treffer. Marine Le Pen hat seit September 2016 nicht über den Islam getwittert. Was ist passiert? Sind die Angst vor Terrorismus und die Islamophobie aus Le Pens Wahlkampagne verschwunden? Spielen Themen wie Sicherheit, Immigration, Kampf gegen Terror überhaupt noch eine Rolle in den Präsidentschaftswahlen? Oder wurden sie vom Skandal um die vermutete Scheinbeschäftigung von Fancois Fillons Frau und vom rasanten Aufstieg des unabhängigen Jungkandidaten Emmanuel Macron verdrängt?

Idéo2017 weiß noch mehr. Die Website ist seit ein paar Tagen voll in Betrieb und analysiert die Tweets der französischen Präsidentschaftskandidaten seit Beginn des Wahlkampfes im Herbst. Zu den elf französischen Präsidentschaftskandidaten spuckt die Seite Diagramme, Wörterwolken, Mind-Maps und endlose Tweet-Listen aus, immer in Verbindung mit einem politischen Schlagwort. „Arbeit“ taucht am häufigsten in Benoît Hamons Kurznachrichten auf, was bei dem Kandidaten der sozialistischen Partei nicht weiter überrascht. In Macrons Tweets wird „Europa“ oft im Zusammenhang mit „Reformen“ erwähnt. Die Website weiß auch, dass Marine Le Pen ganz und gar nicht auf den Terrorismus-und-Islam-Diskurs verzichtet: beim Schlagwort „Islamistisch“ führt sie die Idéo-Rangliste an.

„Wir werden das Problem des islamistischen Terrorismus nicht regeln können, ohne mit Russland zu diskutieren.“

„Man muss nicht nur gegen den Terrorismus Krieg führen, sondern auch gegen die Ideologie des islamistischen Fundamentalismus.“

Islamismus statt Islam

Julien Longhi hat dafür eine Erklärung parat: Der französische Linguist denkt, dass Marine Le Pen durch die Vermeidung des reinen Religionsnamens „Islam“ wenig Angriffsfläche für Kritik bieten will. „Sie kritisiert nicht die Religion, sondern nur die radikale Form und hält sich dadurch die Islam-Verteidiger vom Hals“, sagt Longhi. Der Effekt sei aber, dass in Le Pens Tweets der kleine fundamentalistische Teil des Islam mehr Platz einnehme als die vielfältige und überwiegend friedliche Religion: „Wenn man sich nicht die Arbeit macht, die Sprache zu analysieren und zu dekonstruieren, wird der Islam schnell zum radikalisierten Islamismus.“

Grafik von Idéo2017 – Le Pen liegt mit 98 Tweets zum Wortfeld Islamismus vorne

Die Dekonstruktion der Sprache – was nach sprachwissenschaftlicher Forschungsarbeit klingt, will Julien Longhi für jeden sichtbar machen. Zusammen mit anderen Sprachwissenschaftlern und IT-Spezialisten hat er Idéo2017 entwickelt. Auf die Idee kam der französische Linguist schon 2014, als er für die éléctions municipales politische Tweets untersuchte. Er hält Twitter für ein sehr mächtiges Mittel, um politische Diskurse zu entwickeln und zu verbreiten. Die Reichweite der französischen Kandidaten kann man zwar nicht mit Twitterkönig Donald Trump vergleichen – mit seinen mehr als 27 Millionen Followern können Fillon und Co. bei weitem nicht mithalten –, doch Marine Le Pen ist mit 1,35 Millionen Followern für europäische Maßstäbe gut dabei. Im Vergleich: Der erfolgreichste deutsche Twitterer aus der Politik ist Martin Schulz, seine knapp 377.000 Follower werden aber nicht nur von Le Pen, sondern auch von Fillon, Macron und dem sozialistischen Kandidaten Jean-Luc Mélenchon übertroffen. Im Ranking der sozialen Medien lässt sich die Bedeutung von Twitter an Zahlen ablesen: Die französischen Kandidaten sammeln auf Facebook weit weniger Likes, bei Macron halbiert sich die Anzahl von 606.000 Followern auf etwa 250.000 Facebook-Daumen.

Hashtags wie Schneebälle

Grund genug also, um den Wahlkampf auf Twitter zu untersuchen. Vor allem ist Julien Longhi mit seinen 35 Jahren selbst Teil der Social-Media-Generation. Es lag also nahe, im Rahmen seiner Lehrstelle an der Universität Cergy-Pontoise ein Projekt auf die Beine zu stellen, das sein Fachgebiet Linguistik mit dem aktuellen politischen Geschehen verbindet. Sein Ziel: Ideologien aufspüren und beschreiben.

Die Analyse des Tweet-Corpus zeigt, dass Islamismus für alle Kandidaten im Wahlkampf relevant ist: Die Schlagwörter „verteidigen“ und „Sicherheit“ werden im Durchschnitt öfter verwendet als „Wirtschaft“; „Immigration“ steht in der Auflistung noch vor „Arbeitslosigkeit“. Longhi beobachtet, dass diese Begriffe immer wieder auftauchen. Über aussagekräftige Hashtags würden dann einzelne Begriffe „wie ein Schneeball“ mit immer mehr Bedeutung aufgeladen.

Häufigkeit ausgewählter Schlagworte in den Tweets der vier Präsidentschaftskandidaten Hamon, Macron, Fillon und Le Pen seit September vergangenen Jahres

Der Schneeballeffekt wird über die herkömmlichen Medien noch verstärkt. Das jedenfalls sagt Marie Veniart, eine französische Sprachwissenschaftlerin, die die Verwendung des Wortes „Krieg“ nach den Attentaten in Nizza untersucht hat. Zeitungen hätten Politiker zitiert, die sich wiederum in Tweets äußerten, sodass Aussagen wie „Das bedeutet Krieg“ oder „Wir sind im Krieg“ bald überall zu hören waren. Auch wenn sie verstehe, dass nur ein extremes Wort den Schock über ein unsagbar schreckliches Ereignis ausdrücken könne, sieht sie die Verwendung kritisch, denn: „Das Wort bleibt in den Köpfen und erzeugt Angst.“

Vermischung separater Themen

Problematisch ist aber nicht nur der inflationäre Gebrauch bestimmter Begriffe, sondern auch der Kontext, in dem sie verwendet werden. Julien Longhi hat vor allem in letzter Zeit eine Vermischung eigentlich separater Themen bemerkt: Immigration, Flüchtlinge und Terrorismus stünden plötzlich nebeneinander, in Tweets wie in Wahlprogrammen. „Argumentative Assoziation“ nennt er das, wenn auf semantischer Ebene eine Verbindung hergestellt wird, die so vereinfacht nicht existiert. Wie bei „islamischer Totalitarismus“, ein Ausdruck, den Francois Fillon oft verwendet, und der impliziert, dass Totalitarismus ein dem Islam eigenes Phänomen sei. Tatsächlich findet sich der Ausdruck „islamischer Totalitarismus“ fünf Mal in Fillons Wahlprogramm. Nicht wenig, wenn man bedenkt, dass in dem 89 Seiten starken Programm ein neutraler Begriff wie „Immigration“ nur 17 Mal, „Integration“ 12 Mal vorkommt.

„Meine Hand wird nicht zittern angesichts der Hass-Ideologien und des islamischen Totalitarismus.“

„Ich sehe, wie unser Land von dem mörderischen Wahn des islamischen Totalitarismus bedroht wird, vergiftet durch die Bildung von Parallelgesellschaften, geplagt von Gewalttaten.“

Moderate Programme, laute Tweets

Dennoch zeigt sich in den Wahlprogrammen der Hauptkandidaten eine Wortwahl, die sich von der Twittersprache unterscheidet. Anders als für die Präsenz in den sozialen Medien gilt hier: Das Wortfeld rund um Islamismus tritt in den Hintergrund. Auf den 22 Seiten von Marine Le Pens Programm ist das Wort „Djihadismus“ acht Mal verteilt – weitaus öfter als in Macrons, Fillons und Hamons Programmen, aber trotzdem nicht dominant. „Terrorismus“ liegt in jedem Programm der vier Kandidaten weit abgeschlagen hinter „Wirtschaft“, das Wort „Muslim“ kommt überhaupt nur in Fillons Schrift vor.

Bedeutet dies nun, dass sich die Präsidentschaftskandidaten mit ihren tatsächlichen Wahlkampfinhalten doch vom Kampfbegriff „Islamismus“ abgewendet haben? Hat der Terrorismus zwei Jahre nach Charlie Hebdo, ein Jahr nach Bataclan und Nizza seine populistische Strahlkraft verloren? Julien Longhi findet einen anderen Grund für das Analyse-Ergebnis: Für ihn liegt es eher an der Form der Kommunikation, die sich von kurzen Textmitteilungen auf Twitter unterscheidet. Während die Tweets „semantisch kondensiert“ seien, die 140 Zeichen also für aussagekräftige Begriffe genutzt würden, werde in den Wahlprogrammen auf „neutrale und weniger polemische Formulierungen“ geachtet.

Politische Ideen, kondensiert in Hashtags? Natürlich ist Twitter nur eine von vielen Plattformen für den politischen Diskurs. Doch gerade die wenigen Worte, die eine Meinung radikaler formulieren als eine 100-Seiten-Abhandlung, sind für Julien Longhi essentiell, um die dahinterliegenden Ideologien zu offenbaren: die Idéologies2017.