Frankreich hat ein wachsendes Antisemitismus-Problem. Doch es gibt auch Mutmacher. Etwa den Muslim Lassana Bathily, der Juden vor Dschihadisten in einer Kühlkammer versteckte.

Lassana Bathily (27) war Zielscheibe und Schutzschild zugleich. Der junge Mann stammt aus Mali, ist schwarz und gläubiger Muslim. Er wurde Zielscheibe rassistischer Ressentiments. Die habe er oft zu spüren bekommen, etwa von jüdischen Kunden im Supermarkt „Hyper Cacher“, seinem ehemaligen Arbeitsplatz.

„Manche Kunden grüßten mich nicht einmal und kommandierten mich wie einen Sklaven herum“, sagt Lassana Bathily. Würde er heute noch bei „Hyper Cacher“ arbeiten, bekäme er statt argwöhnischer Blicke wohl eher ein dickes Trinkgeld. Denn Lassana Bathily ist der Held vom 7. Januar 2015.

Als islamistische Terroristen die Redaktionsräume von „Charlie Hebdo“ und den jüdischen Supermarkt „Hyper Cacher“ stürmten, änderte sich sein Leben schlagartig. Lassana Bathily arbeitete im Supermarkt, als die Terroristen zuschlugen. Er brachte mehrere jüdische Kunden in Sicherheit – in einer Kühlkammer. Später flüchtete er nach draußen und zeichnete für die Polizei einen Grundriss der Ladenfläche. Der war wichtig, um das Geschäft zu stürmen und Geiseln zu retten.

Seitdem wird Lassana Bathily als Held gefeiert, obwohl er kein Held sein will. „Ich habe einfach nur menschlich gehandelt“, sagt der junge Mann, der wie einer der Dschihadisten aus Mali stammt. Nächstenliebe ist für den gläubigen Muslim eine Selbstverständlichkeit. „Das haben mir meine Eltern mitgegeben.“

Plakat in Paris
Dieses Plakat prangert in Paris Krieg, Elend und Rassismus an. Foto: Raphael Rauch

Der „Hyper Cacher“-Held erscheint zum Treffen mit Kapuze und Sonnenbrille, von seinem Gesicht ist nicht viel zu sehen. Er war etliche Male im Fernsehen zu Gast, alle französischen Zeitungen druckten sein Foto ab. Häufig wird er auf der Straße erkannt, er möchte aber lieber in Ruhe gelassen werden.

Immer wieder macht Lassana Bathily rassistische Erfahrungen. Als er in Montpellier in eine Disco wollte, wiesen ihn die Türsteher ab. Weiße Jungs konnten problemlos passieren. Mittlerweile arbeitet er als Erzieher. Er möchte Kindern Mitmenschlichkeit mit auf den Weg geben. Und sie zu Botschaftern des Friedens machen.

Rassismus trifft selbst die französischen Helden. Das ärgert Joachim Son-Forget (35), der seit letztem Jahr für „En Marche“ in der Assemblée Nationale sitzt. In Frankreich gibt es auch Wahlkreise für die Landsleute im Ausland. Joachim Son-Forget vertritt die Franzosen in der Schweiz und in Liechtenstein. Der Abgeordnete sieht asiatisch aus, er ist in Südkorea geboren. Eine französische Familie hat ihn adoptiert.

Rassistische Erfahrungen habe er selbst nicht gemacht. Er berichtet aber von herablassenden Witzen über Asiaten. Die Diskriminierung von Minderheiten sind ihm ein Dorn im Auge. Der junge Abgeordnete hat sich dem Kampf gegen den Antisemitismus verschrieben. Denn dem Judentum fühlt er sich besonders verbunden. Zwar wurde er katholisch erzogen und hatte während seines Medizin-Studiums atheistische Phasen. Aber in den letzten Jahren fühlte er sich immer mehr vom Judentum angezogen.

„Obwohl ich nicht konvertiert bin, feiere ich die jüdischen Feiertage. Meine protestantische Frau ging sogar so weit, einen Seder für Pessach zu gestalten. Und zwar so, als ob sie das schon seit drei Generationen machen würde“, erzählt Joachim Son-Forget. Aufgrund der großen Verbundenheit mit dem Judentum mache ihn der wachsende Antisemitismus betroffen. „Antisemitismus ist leider ein Barometer der menschlichen Misere“, sagt Joachim Son-Forget.

Der junge Abgeordnete gehört einer Kommission der Assemblée Nationale an, die den Antisemitismus in Frankreich untersucht. Er habe dort aber noch nichts bewirken können. „Ich arbeite viel zum Nahen und Mittleren Osten“, berichtet Joachim Son-Forget. „So langsam verstehe ich die Probleme.“

Die Schrecken des Holocausts und der Antisemitismus seien für ihn eine Verpflichtung, die Werte der französischen Republik zu verteidigen. Den Auftrag, aus der Geschichte zu lernen, empfinde er nicht anders als ältere Abgeordnete, die das Vichy-Regime noch selbst erlebt hätten. „Viele meiner Freunde sind Söhne oder Enkel von Deportierten. Welcher jüdische Freund hat keine dramatischen Geschichten zu erzählen? Keiner. Also höre ich ihnen zu und fühle mit ihnen mit“, sagt Joachim Son-Forget.

Aufgrund der entschlossenen Aussagen wundert etwas, dass der Abgeordnete wenig zu diesen Themen postet. Andere Mitglieder der Antisemitismus-Kommission antworten erst gar nicht. Dabei sind Solidaritätsbekundungen wichtig für die Juden in Frankreich. Die Kriminalitätsstatistik ist eindeutig: Die rund 470.000 Juden sind eine sehr kleine Minderheit in Frankreich. Sie bilden nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung. Trotzdem werden sie überproportional oft angegriffen.

Und die Zahl antimuslimischer Vorfälle geht stärker zurück als jene von antisemitischen Übergriffen. „Jüdische Franzosen sind 25 Mal mehr gefährdet, angegriffen zu werden, als ihre muslimischen Mitbürger“, heißt es in einem Manifest von 300 Vertretern der französischen Gesellschaft. Es wurde im April veröffentlicht und hat eine intensive Debatte ausgelöst.

In den letzten Jahren wurden mindestens elf Juden aufgrund von antisemitischer Gewalt getötet. Die Unterzeichner des Manifests verweisen auf Ilan Halimi, der 2006 verschleppt und drei Wochen lang zu Tode gefoltert wurde. Im Jahr 2012 wurden drei Schüler und ein Lehrer der jüdischen Schule in Toulouse erschossen. 2015 folgte dann der Anschlag auf den jüdischen Supermarkt „Hyper Cacher“.

Für Entsetzen sorgte 2017 der Tod von Sarah Halimi, die von einem Muslim misshandelt und aus dem Fenster gestoßen wurde. Und vor wenigen Wochen ging die Nachricht über die Ermordung der 85 Jahre alten Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll um die Welt.

„Wir werden uns nie an den Antisemitismus gewöhnen“, sagt Francis Kalifat (65). Er ist Präsident des Crif, dem Dachverband jüdischer Organisationen in Frankreich. Es sei Aufgabe des Staates, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen. Er findet es schade, dass viele Juden Frankreich verlassen und nach Israel auswandern. „Aber ich kann es verstehen“, sagt Kalifat. „Ich würde mir wünschen, dass sie aus freien Stücken auswandern und nicht, weil sie sich dazu gezwungen sehen.“

Demonstration in Paris
Pro-Palästinensische Demonstrationen wie hier in Paris werden oft genutzt, um Ressentiments gegen Israel zu schüren – etwa mit „Apartheid“-Vorwürfen und dem Aufruf zum Boykott. Foto: Katharina Kunert

Francis Kalifat kennt strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Muslime will er nicht über einen Kamm scheren. Er pflege gute Beziehungen zu muslimischen Vertretern, sagt er. Aber er würde sich von ihnen ein stärkeres Signal wünschen gegen Antisemiten und Antizionisten, die dem Land Israel das Existenzrecht absprechen.

Nur selten komme es zu Gegendemos, wenn Franzosen einseitig Partei für die Palästinenser ergreifen, kritisiert Francis Kalifat. Auf Demos werde Israel Apartheid vorgeworfen und lautstark „Kindermörder Israel“ gerufen. Die Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) setzt sich für einen Israel-Boykott ein – und genieße auch große Sympathien in Frankreich, sagt Francis Kalifat.

Der Crif-Präsident wünscht sich mehr Rückendeckung – von Muslimen, aber auch von der ganzen französischen Gesellschaft: „Antisemitismus geht nicht nur Juden an. Sondern alle. Es geht um die Werte unserer Republik.“