Es sind vor allem die Ehrenamtlichen, die sich in Frankreich für Flüchtlinge einsetzen. Sie springen für den Staat ein. Denn es fehlt teils am Geld, teils an konkreten Lösungen.
Stille. Für einen Augenblick, manchmal auch mehrere Minuten. Wenn Alice Tourret ihre Schüler etwas fragt, kommt die Antwort oft zögerlich. Viele der Flüchtlinge im Raum sprechen wenig Französisch, können es noch nicht lesen oder schreiben – Anfängerniveau. Eigentlich sind neun Schüler in ihrer Klasse, heute sind nur sieben da. Die anderen beiden lösen wohl Probleme – denn die gibt es oft mit den Behörden, mit der Lebensmittelversorgung in den Wohnanlagen zum Beispiel. So ein Klassenraum am Pariser Universitätszentrum Clignancourt bietet eigentlich Platz für rund 30 Leute. Aber die Klassen müssen kleiner sein. Geld ist nicht unendlich vorhanden und der Unterricht muss zudem wegen der unterschiedlichen Kenntnisse der Schüler sehr individuell sein.
Tourret leitet einen von vier Kursen, die die Studentenvereinigung „InFLÉchir“ für Flüchtlinge anbietet. Die Inhalte reichen vom Lesen bis zum Bewerbungsschreiben. Die 27-Jährige lehrt zurzeit Jahreszeiten und Datumsangaben. Sie ist selbst noch Masterstudentin. Ihr Studienfach: Französisch als Zweitsprache (FLS). Aufmerksam geht sie zu jedem Einzelnen, fragt, wie es läuft, gibt Hilfestellungen, so gut es geht. Manche Schüler sind mit ihren Aufgaben schnell fertig und machen sich bemerkbar, andere brauchen Hilfe von ihrem Sitznachbarn oder von Tourret. Zwar ist sie nicht unerfahren, doch sie ist trotzdem noch keine vollausgebildete Lehrerin.
Vier Studenten unterrichten in Clignancourt insgesamt 45 Schüler – montags bis freitags, von 17 bis 19 Uhr. Das Ziel ist die Integration der Flüchtlinge, die noch auf ihren Asylbescheid warten. Mit den Kursen sollen sie letztendlich ein Studium anfangen oder ins Berufsleben einsteigen können. Insgesamt nur 1.000 Euro hat die Studentenvereinigung von der Stadt Paris erhalten – dazu kommen noch ein paar Mitgliedsbeiträge. Aber das Geld reicht nicht, um Französischunterricht und auch noch Ausflüge ins Theater, Museum oder gemeinsames Kochen anzubieten. Bei der Stiftung Orange des gleichnamigen Telefonanbieters haben die Studenten mittlerweile 20.000 Euro zur Finanzierung der Französischdiplome ihrer Schüler beantragt. Im Saarland läuft das anders: Wenn dort etwa das Diakonische Werk an der Saar Deutschkurse anbietet, sind ausgebildete Lehrer Mangelware – und nicht das Geld.
Wenige Erwartungen an die Präsidentschaftswahlen
„Die Willkommenspolitik für Flüchtlinge im Hochschulbereich ist nicht herausragend“, betont „InFLÉchir“-Generalsekretärin Louise Delaporte. Ein Problem sei die Umsiedlung, sobald ein Asylantrag genehmigt wurde. Die Schüler landeten dann oft in Zentren, die Hunderte von Kilometern entfernt seien. Sie verlören ihre sozialen Kontakte und könnten auch nicht mehr an ihren Sprachkenntnissen arbeiten, erklärt die 21-Jährige.
Den Flüchtlingen, die sich für ein Studium interessieren oder die ihr bisheriges Studium fortsetzen wollen, steht laut Delaporte die Bürokratie oft im Weg. „Sie kommen nicht automatisch im September pünktlich zum Semesterbeginn an“, erklärt sie. Anträge müssen gestellt, Zertifikate nachgewiesen werden – alles zu festen Zeitpunkten. Sind sie durch die äußeren Umstände eine Woche zu spät, gebe es keine Flexibilität, kritisiert die 21-Jährige. Zudem fehlten bei vielen Verantwortlichen auch Kenntnisse über die Rechte von Migranten.
Oft bitten die Flüchtlinge auch bei Alltagsproblemen in den Unterkünften um Hilfe. Die Studenten müssten sich dann bei unterschiedlichen Fragen sowohl ans Innen- als auch ans Bildungsministerium wenden. Es mangele zwischen den einzelnen Ministerien an Absprachen. Im Saarland haben sich die Ministerien hingegen schnell miteinander abgesprochen.
Von den Präsidentschaftswahlen verspricht sich die 21-jährige Delaporte nicht viel Neues. „Die Aufnahme von Flüchtlingen im Hochschulwesen wird von so gut wie keinem Kandidaten behandelt, weil nur sehr wenigen das Problem bekannt ist.“
Die fünf vielversprechendsten Kandidaten äußern sich kaum zu Flüchtlingsfragen. Emmanuel Macron, der mit seiner Bewegung En Marche ins Präsidentenamt will, verspricht zum Beispiel nur schnellere Asylverfahren. Benoît Hamon von den Sozialisten kündigt mehr Bewegungsfreiheit für Migranten sowie eine neue europäische Regelung zur Aufnahme von Flüchtlingen an. François Fillon von den Republikanern spricht sich für Aufnahmegrenzen und gezielte Grenzkontrollen aus. Der rechtsextreme Front National um Marine Le Pen fordert einen kompletten Austritt aus Schengen und weniger Ausgaben für die Immigranten. Der linksextreme Jean-Luc Mélenchon von der Parti de Gauche wirbt derweil für eine „würdevolle Aufnahme“ und würdevolle Zentren.
Rund 800 Erstaufnahmeplätze in Paris
Im vergangenen Jahr haben rund 1,2 Millionen Menschen laut Eurostat zum ersten Mal einen Asylantrag in Europa gestellt, davon 722.300 in Deutschland, 76.000 in Frankreich. Die meisten Flüchtlinge in Frankreich kommen nach Paris. Von dort aus wollen viele Richtung Deutschland reisen oder sich auf den Weg nach England machen. 2015 haben rund 10.600 Menschen laut OFPRA, dem französischen Pendant zum Bundesamt für Migration (BAMF), in Paris einen ersten Asylantrag gestellt.
Bisher steht ein großes Notaufnahmelager in Paris. Seit Mitte November 2016 finden dort 400 Menschen eine Notunterkunft. Inspiration für dieses Zentrum kam unter anderem aus München und dem saarländischen Lebach. 400 weitere Plätze gibt es in Ivry-sur-Seine, einige Kilometer südöstlich. Die Plätze dort richten sich vor allem an Familien, Schwangere sowie alleinreisende Frauen. Fünf bis zehn
Tage bleiben die Flüchtlinge im Schnitt. Paris setzt in der Erstaufnahme auf die Hilfsorganisation Emmaüs. Insgesamt 800 Mitarbeiter sind dort tätig, 40 Ehrenamtliche täglich im Einsatz. Doch sie kümmern sich nicht um die Erfassung der Daten. Das machen die Präfekturen. Für den Asylantrag selbst ist dann die OFPRA verantwortlich. Im Saarland arbeiten BAMF, Innenministerium und Ehrenamtliche hingegen am zentralen Erstaufnahmelager Lebach zusammen.
Die Ehrenamtliche Anne Bernex geht nicht davon aus, dass vielen Politikern der Alltag von Flüchtlingen in Frankreich bekannt ist. Die 45-Jährige hilft im Notaufnahmelager in Paris Nord. Dort sei einmal ein Minister mit viel Gefolge und Pomp zum Lager gekommen. In der Eingangshalle, wo die Neuankömmlinge befragt werden, habe es stark gestunken, erklärt Bernex. Nach alten Socken. „Als der Minister da wieder herauskam, sah er aus, als ob es ihm nicht besonders gut ging“, berichtet sie. „Da habe ich mir gesagt: Das tut ihnen auch einmal gut, sich damit auseinanderzusetzen.“
Warum Anne Bernex sich engagiert:
Bernex arbeitet abends eigentlich als Schauspielerin. Hier im Aufnahmelager ist sie zwei- bis dreimal pro Woche für jeweils drei Stunden für die Hygiene zuständig. Die Flüchtlinge „bringen uns ihre Wäsche und wir waschen sie“, sagt sie.
Dass in der Unterkunft nur 400 Personen untergebracht werden können, sei aber „nicht ausreichend“, kritisiert Bernex. Im Winter, wenn es wirklich gefährlich sei, draußen auf der Straße zu schlafen, hätten viele Flüchtlinge versucht, auf das Gelände zu kommen. Sicherheitskräfte hätten sie davon abhalten müssen. Das Verhalten der Geflüchteten sei verständlich. „Aber wir können sie nicht alle rein lassen und das ist hart“, berichtet die Schauspielerin. Wenn es um die minus zwei Grad sei, die Menschen draußen mit Decken schliefen, da frage man sich schon, was man machen könne. „Es müssen wirklich weitere Zentren eröffnet werden“, betont Bernex. Die gleiche Forderung vertritt auch Emmaüs und versucht die Politik davon zu überzeugen.
Nicht ausreichend sind nach Ansicht des Studenten Clément de la Vaissière auch die Informationsangebote für Flüchtlinge. Der Andrang sei oft zu groß, die Wartezeiten lang und die Informationen nicht immer klar, berichtet der 23-Jährige. Er hat sechs Monate lang unter anderem ehrenamtlich als Übersetzer in einem juristischen Zentrum für Flüchtlinge gearbeitet. „Es gab dort mehrere Juristen, die die Personen empfangen haben, und sie brauchten wiederum Übersetzer, die Arabisch oder Sudanesisch sprechen“, betont er.
Warum Clément de la Vaissière sich engagiert:
Zwar investiere der französische Staat viel, doch vor allem in die Polizei, kritisiert de la Vaissière. „Wir müssen versuchen, diese Menschen so würdevoll wie möglich aufzunehmen.“ Dazu gehöre auch mehr Geld für Übersetzer. Denn manche hätten keine Kenntnisse vom sudanesischen Arabisch. Dadurch hätten viele Flüchtlinge den Eindruck, dass ihr Fall falsch verstanden worden sei. Zum juristischen Zentrum seien sie dann etwa gekommen, um gegen einen Abschiebebescheid vorzugehen. „Wir mussten uns oft damit begnügen, ihnen zu erklären, wie das abläuft.“ Immerhin hätten die Flüchtlinge dadurch etwas Zeit gewonnen, da sie Anspruch auf diese juristische Beratung hätten.
Auch de la Vaissière zeigt sich pessimistisch, dass sich nach den Präsidentschaftswahlen etwas in der Flüchtlingspolitik ändert. Macron, der zurzeit die Umfragen anführt, stehe für ein „Weiter so“. Andere Politiker wie Mélenchon oder Hamon seien wiederum Utopisten ohne einen konkreten Plan, kritisiert der Student.
Während die Landespolitik und die Präsidentschaftskandidaten sich mehr mit anderen Themen beschäftigen, unterrichtet Lehrerin Tourret ihre Schüler weiter an der Universität. Als nächstes will sie sich mit dem Metroplan der Stadt beschäftigen, damit die Flüchtlinge sich besser orientieren können. Den Unterricht gestaltet sie mittlerweile auch ehrenamtlich. Denn der Studentenvereinigung fehlen genau für ihre Stelle die Mittel.